Spazierengehen gilt spätestens seit März 2020 als Freizeitbeschäftigung Nummer eins in Deutschland. Zahlreiche Menschen treibt es seitdem an die frische Luft, um einen Ausgleich zum Arbeits- und Corona-Alltag zu finden. Auch Sportarten wie Radfahren oder Joggen erfreuen sich großer Beliebtheit. Doch nicht für alle Menschen ist es einfach, solche gesundheitsfördernden Aktivitäten in ihren Alltag zu integrieren.
Im Projekt „Förderung von Bewegungsfähigkeiten und körperlicher Aktivität von Menschen mit geistiger Behinderung“ (förges3) untersuchten Forschende des Fachbereichs Gesundheit der Fachhochschule (FH) Bielefeld, wie man diese Bevölkerungsgruppe darin unterstützen kann, auf selbstbestimmte Art und Weise gesundheitsfördernde Maßnahmen in ihr Leben zu integrieren.
„Bei Menschen mit geistiger Behinderung beobachten wir zunehmend, dass der Wunsch nach Selbstbestimmung immer stärker wird“, erklärt Prof. Dr. Änne-Dörte Latteck. „Dieses Emanzipationsbedürfnis wollen wir stärken und Aspekte der Gesundheitsförderung stärker in die Verantwortung der Menschen geben.“ Mit ihrem Kooperationspartner Lebenshilfe Brakel Wohnen Bildung Freizeit gGmbH entwickelten und erprobten Latteck und ihr Team ein Interventionskonzept, das einen körperlich aktiven Lebensstil von Menschen mit intellektuellen Behinderungen fördert.
„Körperliche Aktivität verbessert die Gesundheit und das Wohlbefinden jedes Menschen“, so Projektleiter Dr. Dirk Bruland. „Es ist erwiesen, dass zahlreiche Beeinträchtigungen und Erkrankungen, die auf Bewegungsmangel zurückzuführen sind, bei Menschen mit geistiger Behinderung häufiger und oftmals früher auftreten. Genau dem wollen wir mit unserem Konzept entgegenwirken.“ Ganz konkret wollen die Forschenden Hilfe zur Selbsthilfe beim Muskelaufbau und bei der Verbesserung der Koordinationsfähigkeit bieten. Neben einer Verbesserung des Allgemeinbefindens geht es beispielsweise auch darum, langfristig Stürze zu verhindern oder zumindest Sturzfolgen zu reduzieren.
Das Besondere an förges 3: Die Perspektive der Betroffenen wurde gezielt in das Interventionskonzept integriert. „Ich kann kein Bewegungsprojekt starten, wenn es Barrieren gibt. Das heißt, ich muss die Leute da abholen, wo sie stehen“, erläutert Christina Ising, Projektkoordinatorin der Lebenshilfe Brakel. Aus diesem Grund wurden die Ergebnisse der Forschenden in einer für die Betroffenen angemessenen Darstellungsweise visualisiert. „Wir haben versucht zu verdeutlichen, dass es im Alltag zahlreiche Chancen gibt, sich zu bewegen“, erläutert Ising. „Wir wollten so die Motivation stärken, sich aktiv damit auseinanderzusetzen und zu überlegen, wie man diese in das eigene Leben einbauen kann.“
Auch in den vorausgegangenen wissenschaftlichen Prozess wurden die Betroffenen einbezogen. „Bei unseren Projekttreffen wurde die Perspektive zukünftiger Nutzerinnen und Nutzer durch zwei Arbeitsgruppen stets eingebunden und sie fungierten als unsere Expertinnen beziehungsweise Experten“, berichtet Bruland. „Auf diese Weise konnten wir den Klientinnen und Klienten auf Augenhöhe begegnen – tolle Ideen und Synergien waren das Ergebnis“, so Ising.
Forschende und Betroffene stellten sich unter anderem die Frage: Wie kann ich mich jeden Tag bewusst für einen körperlich aktiven Lebensstil entscheiden? Oder: Wie mache ich Bewegung und wie mache ich sie richtig? Hierfür stehen zwölf Broschüren in vier Modulen bereit, die Informationen, Übungen zum Ausprobieren und Entscheidungshilfen enthalten. Egal ob Yoga, Spazierengehen oder Fahrradfahren – Nutzerinnen und Nutzer setzen sich eigene Ziele und erstellen gemeinsam mit von ihnen selbst ausgewählten Unterstützerinnen und Unterstützern (Bewegungs-Paten) einen Wochenplan, der sie auf dem Weg zu einem aktiven Lebensstil unterstützt.
Im Vordergrund bei alledem: Spaß an der Bewegung und keine Überforderung! „Wir dürfen die Lebenswelt und das Selbstbestimmungsrecht der Leute nicht vergessen!“ so Ising. „Sie sollen selber entscheiden, was gut für sie ist und niemand anderes.“
Die ersten Bewegungspläne werden von den Bewohnerinnen und Bewohnern bereits umgesetzt. „Es ist schön, dass ich auf dem Plan nochmal sehe, was ich machen kann, und dann mache ich das auch“, sagt Franziska Heidrich, Mitglied einer Arbeitsgruppe und Nutzerin des Angebots. „Ich fühle mich jetzt auch schon wohler als vor dem Projekt. Durch die Bewegung bin ich ein anderer, selbstbewussterer Mensch geworden.“
Für die Forschenden sind Rückmeldungen wie diese ein großer Erfolg. Bruland: „Es zeigt sich, dass wir die Bewohnerinnen und Bewohner nicht nur körperlich, sondern auch in ihren individuellen Kompetenzen fördern können. Sie lernen vieles über ihren eigenen Körper und über ihre Bewegungsmöglichkeiten. Das stärkt Selbstbewusstsein und fördert selbstbestimmtes Handeln.“
Das Projekt Förderung von Bewegungsfähigkeiten und körperlicher Aktivität von Menschen mit geistiger Behinderung (förges 3) wurde gefördert durch die Stiftung Wohlfahrtspflege des Landes NRW im Rahmen der Förderlinie „Pflege Inklusiv“ und entstand in Kooperation mit der Lebenshilfe Brakel Wohnen Bildung Freizeit gGmbH.
Weiter ist es Teil des Verbundes Nutzerorientierte Versorgung: Förderung der Gesundheitskompetenz und des Selbstmanagements bei chronischer Krankheit und Pflegebedürftigkeit (FörGes).